Dienstag, 15. Januar 2013

Ultras im Abseits?



Rezension


Martin Thein / Jannis Linkelmann (Hg.)
Ultras im Abseits?
Porträt einer verwegenen Fankultur
Göttingen 2012
(Verlag Die Werkstatt)
272 S.






Dieser Sammelband vereinigt 22 recht unterschiedliche Beiträge rund um die Fankultur der Ultras − hauptsächlich Beschreibungen und Kommentare, aber auch Innensichten. Es gibt Beiträge, die über die Gründzüge die Entwicklung des modernen Fußballs und über Fankultur informieren, ebenso wie zu Spezialthemen.

In Deutschland entwickelte sich die Ultrabewegung gleichzeitig mit der unter dem Schlagwort „moderner Fußball“ zusammengefaßten aktuellen Ausformung der Kommerzialisierung, und zwar in scharfer Ablehnung dazu. Dieser Zusammenhang wird an den Beginn des Bandes gestellt. Aktive Fans gab es schon in den 1990er Jahren zuvor, durch die neue Organisationsform machte sich aber nicht nur eine andere Form des Supports, sondern auch eine neue Qualität der Protestkultur im Fußball breit, wie mehrere Autoren herausarbeiten. „Der relevanteste Faktor bei der deutsch-italienischen Fankulturadaption ist die Tatsache, daß die Fans lernten, nicht alle Entscheidungen der Verbände oder Vereine hinzunehmen, sondern begriffen, daß sie ein aktiver Teil des Gesamtkonstrukts Fußball sind bzw. sein können.“ schreibt Marcus Sommerey.
„Soll der Fußball in Deutschland nur eine Unterhaltungsindustrie sein, an der einige der Beteiligten prächtig verdienen? Oder soll er darüber hinaus andere Funktionen wahrnehmen, z.B. der Integration dienen, Sozialisierungspunkt und identitätsstiftend für die Jugend sein? Diese gesellschaftliche Auseinandersetzung müßte stattfinden, aber ich sehen nicht, wer diese Debatte initiieren könnte,“ sagt ein Ultra des Stuttgarter Commando Cannstatt.

In ebendiesem Gespräch beschreibt ein anderer Gesprächspartner das Kollektiverlebnis der Ultragruppe: „Die Fankurve ist ein großer Raum, den die Jugendlichen durch eigenes, kreatives Engagement selbst mit Leben füllen können. Die emotionale Bindung an den Verein und die Erlebnisse mit der Gruppe erzeugen Emotionen wie Freude, Leiden, Verzweifeln, Hoffen, Bangen, Hassen und Lieben, Gefühle, die man im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft im Stadion auch ausleben kann.“ Damit einhergehendes nonkonformes Verhalten werde in der Öffentlichkeit als abweichendes Verhalten beurteilt, das es zu einzuschränken und zu bestrafen gilt.
Damit ist auch schon das zweite große Thema des Buchs nach dem Wandel zum modernen Fußball angesprochen: Gewalt. Hier gibt es Beiträge, bei deren Einschätzung offenbleibt, ob sie camouflierter Humor oder Unterschätzung der Intelligenz der Leserinnen und Leser sind. Wenn etwa ein Polizist schreibt „Lassen sich Einschränkungen für friedliche Fans und Unbeteiligte nicht vermeiden, macht die Polizei die Gründe hierfür durch eine intensive Kommunikation deutlich.“ weckt dies dann doch gerade bei Friedlichen und Unbeteiligten einige Erinnerungen an nicht von Kommunikation begleitete Schikanen. Wenn dekretiert wird, „nicht verhandelbare Punkte sollten zunächst zurückgestellt werden. Dies ist keine Verweigerung des Dialogs.“ herrscht ein gewisses Mißverständnis über die Mechanismen eines Dialogs im Unterschied zu einer Anordnung. Überhaupt haben die Polizeibeiträge die Schlagseite einseitigen Fingerzeigens, wobei ja bekanntlich mehr Finger einer Hand auf einen selbst zeigen. Allerdings bringen sie eben auch deren Standpunkt ein.

Hauptsächlich handelt das Buch vom alten Westdeutschland. Nur einmal wird erwähnt, daß die Entwicklung im Osten oft etwas anders gelagert ist. Manches geriet etwas zu reißerisch: Es erschließt sich nicht, warum das interessant zu lesende Gespräch mit den Stuttgarter Ultras in schlechtem Boulevardmedienstil mit „Ultras hautnah!“ betitelt wurde. Die Herangehensweise und Sprache anderer Beiträge ist sozialwissenschaftlich geprägt. Das hat Vor-, aber auch Nachteile an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Manche Autoren, etwa in den Texten zur Pyrotechnikdebatte, zeichneten sich wiederum durch einen kleinen Überschuß an Moralisierung aus.

Ein Résumé eines so breitgefächerten Buches ist nicht leicht möglich. Die breite Herangehensweise und das sichtliche Bemühen der Herausgeber, viele Perspektiven einzubeziehen, ist positiv. Den Anspruch, ein umfassendes Portrait einer Fankultur zu zeichnen, erfüllt das Buch nicht. Dafür fehlen zu viele aus Innensicht wichtige Aspekte und Schwerpunkte, die lediglich in der Gesprächsrunde angerissen werden. Manch einer Leserin und manch einem Leser mag es dennoch neue Sichtweisen eröffnen.

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